P. Lehmann: Umdeutung der Neutralität

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Titel
Die Umdeutung der Neutralität. Eine politische Ideengeschichte der Eidgenossenschaft vor und nach 1815


Autor(en)
Lehmann, Peter
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
CHF 70.00
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Das Neutralitätsthema ist offensichtlich noch nicht ausgeschöpft. Das heisst, das bereits ausgiebig erörterte Thema kann mit neuer Thematisierung abermals angegangen und dabei können dem alten Gegenstand neue Einsichten abgerungen werden. Peter Lehmann ist in seiner Lausanner Dissertation der Frage nachgegangen, warum nach 1815 die eidgenössische Neutralität als wichtig erachtet wurde, obwohl sie in den Jahren zuvor von Frankreich (1798) und von der antinapoleonischen Koalition (1813) nicht respektiert worden war. Die vorliegende Studie sieht in dem vom Genfer Diplomaten und Agrarreformer Charles Pictet de Rochemont 1821 veröffentlichte Traktat «De la Suisse dans l’intérêt de l’Europe» ein Schlüsseldokument für die Beantwortung dieser Frage. Äusserer Anlass für Pictets Schrift war der in Frankreich geäusserte Anspruch, die Schweiz weiterhin als Operationsgebiet beanspruchen zu können. Dem wurde das Konzept entgegengehalten, dass die Schweiz als kräftiger Pufferstaat die französische Ostgrenze genügend schütze. An Pictets Schrift lasse sich gemäss Lehmann eine «Umdeutung» der Neutralität aufzeigen, wonach an Stelle der noch 1777 eingegangenen vertraglichen Bindung an Frankreich nach 1815 eine eigenständige Position im Konzert der Mächte getreten sei. Dabei sei es bezüglich Europa zu einer Kombination von Abgrenzung und Integration gekommen.

Das darf als weitgehend bekannt eingestuft werden. Wenig neu dürfte auch die Erkenntnis sein, dass die Entwicklung eines rigoroseren Neutralitätsverständnisses die Funktion hatte, im damals einsetzenden Prozess des neuzeitlichen nation building den Souveränitätsanspruch zu unterstreichen. Neu ist hingegen der in dieser Arbeit sichtbar gemachte doppelte Zusammenhang erstens zwischen den aufklärerischen Reformideen des 18. Jahrhunderts und den unterschiedlichen liberalen Strömungen der Jahre nach 1815 sowie zweitens zwischen der äusseren Stellung des Landes und der internen Reform. Ein zentrales Postulat war die bereits vor 1798 in der Helvetischen Gesellschaft und nach 1815 erneut geforderte Abschaffung der fremden Dienste, insbesondere der Partikularabkommen, aber auch der Standeskapitulationen. Damit sollten gleich mehrere Ziele verfolgt werden: Förderung des nationalen Zusammenhalts, Stärkung der Landesverteidigung, bessere Nutzung der Landesressourcen insbesondere der Arbeitskraft, Ausbau des Erziehungswesens, Verbesserung der Sitten beziehungsweise Wiederbelebung «alter» Tugenden, vor allem der einfachen und ehrlichen Lebensweise im eigenen Land, sowie keine Beteiligung an der Repression von Freiheitsbewegungen im Ausland, insbesondere in Spanien und Neapel.

Diese Reformen hätten auch aus je eigener Notwendigkeit propagiert werden können, sie wurden aber als unerlässliche Voraussetzung für eine glaubwürdige Neutralität eingefordert. An Stelle der schwachen und teilweise überhaupt nicht vorhandenen Neutralität der vorangegangenen Jahre sollte nach 1815 eine «starke» Neutralität treten. Dieses Postulat war zum Teil aber bloss ein argumentativer Hebel für die Postulierung einer gesamtgesellschaftlichen Reform. Auf seine Vaterstadt Genf angewendet, schloss dies auch die Forderung ein, die Stadtbefestigungen abzutragen. Pictet erscheint als patriotischer Bürger, der sich herausnahm, diese militärischen Einrichtungen öffentlich zu kritisieren, da sie die Stadt in internationalen Konflikten unsicherer machen und der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung dienen würden.

In welchem Mass diese Ziele auch umgesetzt wurden, liegt ausserhalb der Fragestellung dieser auf die politische Ideengeschichte ausgerichteten Arbeit, die nach der Herkunft und Weiterentwicklung normativer Vorstellungen fragt und dabei speziell auf die sprachliche Konvention achtet. Die Textanalyse bleibt weitgehend ohne Einbezug des sozialen Kontextes und ohne eine Einschätzung der Repräsentativität der eingenommenen Haltung. Während sich im Falle des Elitendiskurses des 18. Jahrhunderts die Abklärung weitgehend erübrigt, wie Reformideen ausserhalb der engen Zirkel der ökonomischpolitischen Sozietäten ankamen, müsste die Frage nach der Resonanz der liberalen Reformpublizistik in einer Zeit erweiterter Öffentlichkeit vermehrt interessieren. Das zeigt die Tatsache, dass Pictet 1793 eine Schrift in Dialekt verfasst und veröffentlichte, damit sie möglichst von der «breiten Bevölkerung» verstanden würde. Und Pictets Schrift von 1821 wandte sich an eine breite Öffentlichkeit – an «tout homme qui réfléchit». In zeitgenössischen Rezensionen wurde ihr offenbar «beachtliche Aufmerksamkeit» entgegengebracht (bis zur Edinburgh Review), und auch später sei sie ein «beliebter Referenzpunkt» geblieben. Lehmann referiert ausgiebig diese bloss auf enge Zirkel beschränkte Rezeption; über die unmittelbare Auswirkung auf die Politik der eigenen Zeit kann die ideengeschichtlich angelegte Studie jedoch nichts aussagen.

Am Schluss schlägt der Autor einen Bogen zur Gegenwart, indem er auf eine «auffällige Parallelität» zwischen den Interpretationsansätzen der 1820er Jahre und den heutigen national-konservativen Neutralitätsinterpretationen verweist. Wie damals würde auch heute eine «mythische Ersatzwelt» kultiviert, um über empfundene Ohnmacht und moralische Unzulänglichkeit hinwegzuhelfen. Im Unterschied zur heutigen Mythennutzung stand die Kultivierung der Neutralitätsidee nach 1815 aber im Dienst eines fortschrittlichen Reformpatriotismus. Dies überzeugend herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst dieser Abhandlung.

Zitierweise:
Kreis, Georf: Rezension zu: Lehmann, Peter: Die Umdeutung der Neutralität. Eine politische Ideengeschichte der Eidgenossenschaft vor und nach 1815, Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 485-486. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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